Kinder brauchen Vertrauen

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Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns

Gerald Hüther

Der neue Blick der Hirnforscher

Keine andere Spezies kommt mit einem derart offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch. Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist, so sehr und über einen vergleichbar langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen. Und bei keiner anderen Art ist die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz dieser erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen. Da diese Fähigkeiten bei den Erwachsenen, die für die Gestaltung der Entwicklungsbedingungen eine Kindes maßgeblich sind, unterschiedlich gut entwickelt sind, können die genetischen Potenzen zur Ausformung hochkomplexer, vielseitig vernetzter Verschaltungen im Gehirn der betreffenden Kinder nicht immer in vollem Umfang entfaltet werden. Die Auswirkungen suboptimaler Entwicklungsbedingungen werden allerdings meist erst dann sichtbar, wenn die heranwachsenden Kinder Gelegenheit bekommen, ihre emotionale, soziale und intellektuelle Kompetenz unter Beweis zu stellen, zum Beispiel in der Schule.


Sogar bei Ratten ist inzwischen empirisch nachgewiesen worden, daß Defizite in der „Erziehung“ über Generationen weitergegeben werden. Der Versuch, diese recht eindeutigen tierexperimentellen Befunde auf den Menschen zu übertragen, stößt gegenwärtig jedoch noch immer auf erhebliche Akzeptanzprobleme. Verantwortlich hierfür sind die im vergangenen Jahrhundert entwickelten deterministischen Vorstellungen einer primär durch genetische Programme gesteuerten Hirnentwicklung, die sich fest im Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten verankert haben und zu tragenden Säulen medizinischer, biologischer, psychologischer und sogar soziologischer Theoriegeb äude geworden sind.


Vor allem durch neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Entwicklungsneurobiologie und der Entwicklungspsychologie, der Bindungs- und Säuglingsforschung sind diese Säulen inzwischen ins Wanken geraten. Verschiedene bisher vertretene aber nicht wissenschaftlich überpr üfte Annahmen haben sich als fatale Irrtümer erwiesen. Das gilt für die lange Zeit aufrecht erhaltene und bis heute vorgenommene Trennung zwischen der Hirnentwicklung und der Entwicklung des Verhaltens, Denkens, Fühlens, ja selbst des Gedächtnisses, ebenso wie für die Vorstellung, daß der Prozeß der strukturellen Ausreifung des menschlichen Gehirns gegen Ende des dritten Lebensjahres weitgehend abgeschlossen sei.


Inzwischen ist deutlich geworden, wie eng die Entwicklung dieser Funktionen an die Ausformung und Reifung cerebraler Strukturen gebunden ist. Um diese Strukturen ausbilden zu können, suchen und brauchen bereits Neugeborene die lebendige Interaktion mit anderen Menschen. Die bereits intrauterin entstandenen neuronalen Verknüpfungen bilden nur ein vorläufiges Muster für einen noch kontext- und nutzungsabhängig herauszuformenden späteren Zustand. Durch neue Wahrnehmungen werden die dabei synchron aktivierten neuronalen Netzwerke miteinander verknüpft. Immer dann, wenn später die gleichen neuronalen Netze erneut aktiviert werden, kommt es zum „Wiedererkennen“ der betreffenden Wahrnehmung.


In den letzten zehn Jahren ist es den Hirnforschern vor allem mit Hilfe der sogenannten bildgebenden Verfahren gelungen nachzuweisen, welch nachhaltigen Einfluß frühe Erfahrungen darauf haben, welche Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen besonders gut gebahnt und stabilisiert, und welche nur unzureichend entwickelt und ausgeformt werden.
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Nie wieder im späteren Leben ist ein Mensch so offen für neue Erfahrungen, so neugierig, so begeisterungsfähig und so lerneifrig und kreativ wie während der Phase der frühen Kindheit. Aber dieser Schatz verkümmert allzu leicht und allzu vielen Kindern geht ihr Entdeckergeist und ihre Lernfreude bereits verloren, bevor sie in die Schule kommen. Die Ursache dieses allzu häu- Þ g zu beobachtenden Phänomens sind nicht die Kinder und - wie die Hirnforscher inzwischen herausgefunden haben - auch nicht die Gehirne der Kinder.

Die besondere Formbarkeit des kindlichen Gehirns

Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über einzigartige Potenziale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Ob und wie es ihm gelingt, diese Anlagen zu entfalten, hängt ganz wesentlich von den Entwicklungsbedingungen ab, die es vorfindet, und von den Erfahrungen, die es während der Phase seiner Hirnreifung machen kann. Jedes Kind braucht ein möglichst breites Spektrum unterschiedlichster Herausforderungen, um die in seinem Gehirn angelegten Verschaltungen auszubauen, weiterzuentwickeln und zu festigen. Und jedes Kind braucht das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, um neue Situationen und Erlebnisse nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung bewerten zu können. Beides gibt es nur in der intensiven Beziehung zu anderen Menschen, und es sind die frühen, in diesen Beziehungen gemachten und im kindlichen Hirn verankerten psychosozialen Erfahrungen, die seine weitere Entwicklung bestimmen und sein Fühlen, Denken und Handeln fortan lenken.


Es gibt Gehirne, bei denen durch genetische Programme genau festgelegt wird, wie sich die Nervenzellen miteinander zu verhalten haben. Mit einem derartig vorprogrammierten Gehirn ist es so gut wie unmöglich, später noch etwas hinzuzulernen. Solche Gehirne besitzen Schnekken, Würmer und Insekten. Andere Gehirne werden nicht ganz so streng genetisch determiniert. Die Verschaltungen der Nervenzellen sind hier nach der Geburt noch nicht endgültig ausgereift und deshalb noch eine Zeitlang durch individuelle Erfahrungen formbar. Solche initial programmierbaren Gehirne haben die Vögel und die Säugetiere. Ihre Jungen können von ihren Eltern lernen, worauf es im Leben ankommt, was man fressen kann, wo und wie man dieses Futter findet, auch wie die eigenen Artgenossen aussehen, wie man Gefahren vermeidet und welche Lebensräume und Brutplätze besonders geeignet sind.


Je länger diese Phase früher Prägungen und enger Bindungen zwischen den Eltern und ihren Nachkommen andauert, desto mehr individuelle Erfahrungen können von diesen Nachkommen gemacht und in Form bestimmter Verschaltungen in ihrem Gehirn verankert werden. Am Ende dieser langen Entwicklungsreihe stehen Gehirne, deren Aufbau nur noch in jenen Bereichen durch genetische Programme vorbestimmt wird, die für das Überleben unbedingt erforderlich sind. Alle anderen Bereiche bleiben plastisch und sind durch die jeweiligen Nutzungsbedingungen, nicht nur während der Phase der Hirnentwicklung, sondern zeitlebens formbar. Ein solches Gehirn besitzt nur der Mensch.


Wenn wir dem Prozeß der Entwicklung des menschlichen Gehirns vor der Geburt und während der frühen Kindheit zuschauen könnten, würde uns wohl vor Faszination der Atem stillstehen. Wir würden sehen, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert zunächst Millionen und Abermillionen Nervenzellen durch Zellteilungen gebildet werden und sich zu Zellhaufen ordnen. Wir könnten aus diesen Nervenzellen auswachsende Fortsätze erkennen, die mit anderen Zellen in Kontakt treten, und wir müßten zuschauen, wie ein erheblicher Teil dieser Nervenzellen einfach abstirbt und für immer verschwindet, weil es ihnen nicht gelungen war, sich in ein Netzwerk einzuordnen und dort eine bestimmte Funktion zu übernehmen. Die verbliebenen Nervenzellen formieren sich anschließend zu deutlich voneinander abgegrenzten Verbänden, sogenannten Kerngebieten, und beginnen ein immer dichteres Netzwerk von Fasern und Fortsätzen innerhalb dieser Kerngebiete und zwischen diesen verschiedenen Kerngebieten herauszubilden. Während dieser Phase, die sich in den einzelnen Bereichen des Gehirns in einer zeitlichen Reihenfolge von hinten (Hirnstamm) nach vorn (Stirnhirn) vollzieht, scheint es so, als ob sich jede Nervenzelle mit jeder anderen über so viele Kontakte wie nur irgendwie möglich verbinden wollte. Zu diesem Zeitpunkt (im Hirnstamm liegt er bereits vor der Geburt, im Stirnhirn wird er etwa im dritten Lebensjahr erreicht) ist die Anzahl der Nervenzellkontakte (Synapsen) so groß wie niemals wieder im späteren Leben; denn wenn erst einmal alles mit allem verbunden ist, werden anschließend all jene Kontakte wieder zurückgebildet und aufgelöst, die nicht „gebraucht“, also nicht durch entsprechende Nutzung und Stimulation gefestigt und stabilisiert werden. 

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